Von der Lust zu Morden
Der Babyboomerkrimiboom
Die Generation der Babyboomer profitiert wie keine zweite vom Krimiboom des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, besser sie waren maßgeblich daran beteiligt,
ihn mit hervorzubringen. Woher aber kommt diese Lust zu morden und die Lust das Mordgeschehen aufzudecken und verschiedene Formen des literarischen Ausdrucks im
Krimigenre auszuloten. Vielleicht ist die Antwort ganz banal und einfach: Sie speist sich möglicherweise aus zwei Quellen, der Banalität des Alltages und dem
Versuch ökonomisch als Autor sein Auskommen zu finden und nicht so sehr am psychologischen Interesse gebrochener Existenzen, am Verruchten oder Verfluchten,
an den gesellschaftlichen Außenseitern, am Abgründigen und Entsetzlichen.
Worüber soll denn die Generation der Babyboomer sonst schreiben. Schwerwiegende Inhalte sind rar und längst abgearbeitet von den Generationen davor. Verkürzt
gesagt: In der eigenen Generation haben in den achtziger Jahren Norbert Gstrein mit dem Buch „Einer“ den Antiheimatroman besetzt und Robert Schneider mit
„Schlafes Bruder“ noch einen historisch biographischen Aspekt hinzugefügt. In den Achtzigern war ja wenigstens noch was los. Da gab es Besetzungen,
Demonstrationen, hitzige Debatten über das richtige Leben im falschen. Aber im Grunde waren die Babyboomer in einer Zeit des Friedens aufgewachsen.
In Europa herrschte kein Krieg. Ökonomisch waren gute Zeiten angebrochen, zumindest seit den siebziger Jahren. Wer wollte, und dies bis Ende der achtziger
Jahre anstrebte, wurde mit einem guten Job versorgt. Zugegeben, danach wurde es schwierig. Die Babyboomer, die sich zu lange Zeit ließen mit dem Erwachsenwerden,
verpassten den Anschluss an das gesellschaftliche Leben, zogen sich in ihre Wohnhöhlen und Zweierbeziehungen zurück und bekamen nur noch ein paar vom Fest des Wirtschaftswunders
übriggebliebene Brotkrumen ab.
Pech gehabt, kann man da nur sagen.
Aber im Grunde wurde in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren die Kiste zurechtgezimmert, in die sich die Boomer nur noch hineinlegen mussten.
Sie konnten es sich bequem machen in den Wohnzimmern der Kleinbürgerlichkeit, waren zu keiner Revolution mehr gezwungen, denn die hatte angeblich bereits die Generation
vor ihnen erledigt. Auch die monogame Zweierbeziehung war wieder salonfähig. Krankheiten waren unter relativer Kontrolle und wäre da nicht die Sache mit AIDS
gewesen, hätten die Boomer sich in ihrer sexuellen Sozialisation nur noch vorm Kinderkriegen fürchten müssen.
Also alles im grünen Bereich, zumindest für die, die keine Schriftsteller werden wollten. Für die Dichter und Denker in diesem Land, waren schlechte Zeiten
angebrochen. Bis auf die paar Demokratiedefizite, die Österreich aufwies, war es schwierig ein Thema zu finden, über das es sich lohnte, zu schreiben. Die
demokratische Unterentwicklung Österreichs war ja traditionell immer schon gegeben und der gelernte Österreicher wusste, wie er sich darin zurechtfinden konnte.
Stillhalten, buckeln und treten. Ein paar mäkelten mit Aufsätzen und Essays daran herum und in der großen Massenbewegung von Hainburg errang eine Generation einen
großen moralischen Sieg über die korrupte sozialdemokratische Elite. Wie wir später sehen sollten, war der Sumpf, in den die Christlichsozialen sich mit den
Freiheitlichen begeben würden, auch nicht gerade trockener.
Der zweite Punkt ist, da keine Themen zu finden waren, die für die großen und bedeutenden Zeitromane ausreichten, mussten die, die nichts außer Schreiben gelernt
und den Sprung in den achtziger Jahren in einen deutschen Verlag nicht geschafft hatten, entweder in prekären Arbeitsverhältnissen ihr Auskommen sichern oder sich
eine andere Einkommensquelle erschließen. Probates Mittel war, auf das Drehbuchschreiben zu verfallen und von dort war es nur ein Katzensprung zum Krimi.
Der Kriminalroman war immer schon ein Mittel zur ökonomischen Landgewinnung für Schriftsteller, umso verlockender war es, in dieses Genre einzusteigen, als
der Boom, vor allem jener der Regionalkrimis, Mitte der nuller Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts so richtig losging. Kein Weg führt heute mehr am Krimi vorbei.
Die Zahl der österreichischen Krimiautoren und Krimiautorinnen wächst von Jahr zu Jahr und der Markt scheint mir nach wie vor nicht gesättigt. Und für eine
Generation der Vielen scheint mir ein Genre, das auf unterschiedlichen literarischen Niveaus und in verschiedenen formalen Gestaltungsmöglichkeiten für viele
Autoren Platz bietet, durchaus angemessen zu sein.
Gut nun zu den tieferliegenden Ursachen für diesen Boom, dem sich die Boomer anschlossen. Wer kein eigenes Leben zur Verfügung hat, muss sich am
Leben der anderen bedienen, muss sich eines erfinden oder in die Vergangenheit hinabsteigen. Über das Erinnern, dem sich zahlreiche Boomer angenommen
haben, werde ich noch an anderer Stelle schreiben. Das Erinnern gehört zu den Wesensmerkmalen jeder Literatur, das Aufbewahren, das zur Verfügung stellen
vergangener Epochen, doch die Boomer haben ihren ganz eigenen Zugang zur Vergangenheit entwickelt. Sie schreiben über die anderen, wie sie es auch im
Kriminalroman tun. Der Kriminalroman ist prädestiniert dafür, ein anderes Leben zu erfinden, wenn das eigene inhaltlich auslässt. Da kann jede noch so seltsame
Form der menschlichen Existenz ausgelotet werden und zum Thema von Literatur gemacht werden. Wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, sind die Boomer
ins Erzählen verliebt, noch dazu in ein Erzählen, das oft von einem eigentümlichen Geschwindigkeitsrausch erfasst ist. Auch das kommt dem Kriminalroman entgegen.
Atemlos stürmen Kommissare, die keine mehr sind oder noch keine sind, durch die Geschichten. Journalistinnen, die näher an einer Ermittlerin sind, als am eigentlich
schreibenden Gewerbe, ermitteln, was das Leben so an Absonderlichkeiten hergibt. Da wird klassisch aus der auktorialen Erzählposition fabuliert oder gleich ein Du
angesprochen, dem eine Geschichte direkt ohne Umschweife in einer Sprache erzählt wird, die einem gebrochenen Ausländerdeutsch näher ist, als dem Deutsch, das aus
literarischen Traditionen zu erwarten wäre. Ein Deutsch, das von einem Wiener durchaus gesprochen werden könnte, wenn er auf einem Hausmeisterfensterbrett lehnt und
in den Hof hineinspricht, zu den zufällig vorbeikommenden Passanten. Das macht den Schreiber zum Hausmeister und den Leser zum Zuhörer, von Mündigkeit keine Spur mehr,
weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Geschichte.
Dadurch bekommt die Erzählung den Reiz des Zufälligen, des Beliebigen, einer Literatur, der sich angenommen wird, weil niemand Autor sein kann, nur weil er spricht,
weil zum Autor sein gehört, dass einer schreibt und mehr noch publiziert wird. Wer sich einlässt auf die Literatur der Boomer, findet Krimis von Wolf Haas, Daniel Glattauer,
Eva Roßmann, Stefan Slupetzky selbst Paulus Hochgatterer kann als Psychiater daran nicht vorbei und noch „Schlafes Bruder“ liest sich wie eine Geschichte, in der die Aufklärung
im Mittelpunkt steht. Wir Boomer wollen aufklären, vielleicht weil wir versuchen, uns selbst über das aufzuklären, was wir durchleben, weil wir verstehen wollen, was sich in
unserem Leben abspielt und weil uns die großen Themen, die zum aufgeklärten Roman gehören: Hunger, Not und Krieg, rauchende Kamine, Väter in Stalingrad, Luftschutzkeller und
menschenverachtende Internate mit sadistischen Erziehern erspart geblieben sind. So müssen wir uns Mörder erfinden, die in Bordellen und zwielichtigen Kneipen herumstreunen,
die Teil von riesigen Verschwörungen sind, Abtreibungsgegner, Homosexuelle, Spione und ganz normale Wahnsinnige, die sich unter uns herumtreiben.
Was wir in diesen Krimis nicht erfahren, ist die Gefühlslage der Generation selbst. Wir erfahren nichts über ihre Motivationen, über ihre Herkunft, über ihre Zweifel und ihre
Ängste. So als wäre diese Generation darauf bedacht, sich selbst unsichtbar zu machen, selbst in ihrem Schreiben deckt sie sich nur ungern auf, lässt sich nicht in die Karten
blicken. Das veranlasst mich zu folgenden Fragen: Was hat sie zu befürchten? Was ängstigt sie so sehr, dass sie nicht einmal in ihrer Literatur darüber berichten will? An
allen Ecken und Enden wimmelt es von Großvätern und Großmüttern. Vatergeschichten gerinnen zu Zombiegeschichten über sinnlose Reisen und Erzählungen durch wilde Wasser.
Eine unfassbare Generation schreibt mit einer Erzählwut über alles und jeden, nur nicht über sich selbst. Der Kriminalroman passt da wunderbar ins Bild. Hier kann mit Freude
und Genuss über jeden und jedes fabuliert werden, ohne ein persönliches Risiko eingehen zu müssen, ohne sich im Schatten der eigenen Vergangenheiten reflektieren zu müssen.
Ohne sich der Schuld, die diese Generation am Zustand der Gesellschaft trägt, stellen zu müssen. Ohne sich auch nur Gedanken darüber zu machen, was der Bruch und der Riss ist,
der uns zu Kleinbürgern und gottesfürchtigen Menschen gemacht hat.